Innerartliches Zusammenleben
Forenbeitrag von VolkerM 24-06-2004
Nachfolgend ein längerer Text. Ich hoffe trotzdem darauf, dass er (zumindest teilweise) gelesen wird. Es geht um einen Teil der Verhaltensweisen unserer gefiederten Freunde, die zwar dem "normalen" Verhaltensrepertoire zugeordnet sind, jedoch speziell bei HZ-Vögeln (nicht selten) - und hier je nach Alter (Stichwort: Geschlechtsreife) , Vergesellschaftungszeitpunkt und Haltungssystem große Probleme für Tier (und Mensch) bereiten können.
Die Thematik ist sehr komplex und erfordert (leider) von daher ein umfänglichere Betrachtung.
In Familienverbänden, Gruppen oder Schwärmen organisierte Tierarten sind darauf angewiesen, das innerartliche Zusammenleben so zu "gestalten", dass aus keinem Verhaltenselement Nachteile für die Art erwachsen. Papageienvögel verfügen über wehrhafte Angriffs- und Verteidigungsinstrumente (Schnabel, Krallen), deren Einsatz im Rahmen der Festlegung von Gruppenhierarchien und konkurrierenden Auseinandersetzungen um Futterressourcen oder Brutplätze zu ernsthaften Schädigungen bis hin zur Tötung von Artgenossen führen könnte. Der finale Einsatz dieser arteigenen "Waffen" in Konfliktsituationen würde den Fortbestand der Art ernsthaft gefährden. Folgerichtig haben sich im Verlauf der evolutionären Entwicklung Mechanismen herausgebildet, die es erlauben, innerartliche Auseinandersetzungen so zu kanalisieren, dass Beschädigungskämpfe nicht die Regel, sondern eine Ausnahme darstellen. Solcherart sinnvolle Entwicklungen des Verhaltens, die der Begrenzung bzw. der Vermeidung beschädigender Konfliktaustragung dienen, ermöglichen einen für Individuum und Art hohen Nutzen (benefits) ohne das Risiko entsprechend hoher ökologischer Kosten (costs). Konfliktbegrenzende und konfliktregulierende Verhaltenselemente sind Garanten für eine hohe "Auszahlung" (payoffs) und leisten einen großen Beitrag zur "Gesamtfitness" (inclusive fitness) im Sinne der Definition von Hamilton (vgl. Hamilton, W.D. (1964): The genetical theory of social behavior, in: Theor. Biol. 7 (1).
Maynard Smith kommt zu dem Schluss, dass solche und ähnliche Entwicklungs-, Verhaltens- und Steuerungsprozesse (Strategien) ein Ergebnis natürlicher Selektion sind. Der diesbezüglich geprägte Begriff "Evolutionsstabile Strategien" (evolutionarily stable strategies, kurz: ESS) umfasst nicht nur angeborene, sondern auch erfahrungsbedingte Strategien (vgl. Smith, M. (1982/1989): Evolutionary genetics, Oxford Univ. Press; Evolution and the theory of games, Cambridge Univ. Press).
Gelingen konnte dies durch eine weitgehende Ritualisierung des Aggressionsverhaltens mittels der jeweiligen Konfliktsituation angepassten, abgestuften Ausdrucksformen. Vereinfachend könnte man sagen, die tatsächliche Handlung wurde durch eine von Art zu Art unterschiedliche, jedoch innerhalb der jeweiligen Art "verstandene" Symbolsprache ersetzt.
Unabhängig davon wird ein Übermaß innerartlicher Auseinandersetzungen bereits dadurch vermieden, dass innerhalb von Gruppen Rangordnungen (Hierarchien) ausgebildet werden. Gruppenhierarchien sind ein wirksames Instrument zur Vermeidung andauernder, sich ständig in täglichen Aktivitätsabläufen wiederholender, Auseinandersetzungen zwischen der Gruppe zugehörigen Individuen. Die im Rahmen von Rangordnungskämpfen festgelegten Positionen bleiben meist nicht statisch, sondern erlauben rangniedrigeren Tieren oder heranwachsenden Jungtieren den "sozialen Aufstieg". Beschädigungskämpfe treten auch hierbei selten auf, weil sie die Fitness einzelner Vögel reduzieren und damit die Gesamtfitness der Population (und letztlich der Art) gefährden könnten. Die eigentliche "Kampfhandlung" wird zumeist durch Intentionshandlungen aus dem Bereich des Droh- und Imponierverhaltens (wie z.B. Auffächern des Schwanzgefieders, Abspreizen der Flügelschwingen etc.) ersetzt.
Ein zusätzliches Instrument zur Abschwächung gruppeninterner Aggression besteht darin, dass rangniedrige Tiere die zur Festigung der Gruppenposition durch ranghöhere Tiere eingesetzte - Dominanz anzeigende - Aggression mit Demuts- und Beschwichtigungsgesten "ausbremsen". Dieses Zusammenspiel zwischen ritualisierter Demonstration von Stärke und Akzeptanz von Stärke, das Erkennen der arteigenen Symbolsprache und die korrespondierenden Reaktionsmuster, basiert auf genetisch festgeschriebenen Informationen, deren Umsetzung im Detail durch erfahrene und erlernte Informationen ihre Perfektion ("den letzten Schliff") erfährt. Erlernte, umweltangepasste Verhaltenselemente können innerhalb des je nach Art weiter oder enger gefassten "Spielraums" eingeschoben werden. Solche "Einschübe" (nicht genetisch determinierte Verhaltenselemente) werden als "Simultanverschränkungen" bezeichnet. Speziell handaufgezogenen Psittaciden fehlen (in je nach HZ-Methode schwächerer oder stärkerer Ausprägung) die aus dem Umgang mit Artgenossen erwachsenden "Ausdrucks und Regulationselemente" innerartlicher Regulative. Weder Durchsetzungs- noch Anpassungsvermögen sind bei in frühen Phasen der Ontogenese ohne die Möglichkeit des Lernens in und von einer Artsozietät aufgewachsenen Psittaciden hinreichend vorhanden. Die weitgehende Vermeidung sich in physisch verletzender Weise ausdrückender Aggression durch Transformation in sozialverträgliche Ersatzverhaltensweisen ist ein recht stabiles Regulativ - ja fast schon ein (vermenschlicht ausgedrückt) "moralischer Kodex". Aber wie so viele verhaltenssteuernde Mechanismen ist auch dieser nicht vor Irritationen, Beeinträchtigungen, Störungen oder gar dem gänzlichen Versagen gefeit. Dies zeigt uns eindrucksvoll das "moderne Tier Mensch", das trotz über die Jahrtausende hinweg entwickelter und bei konsequenter Umsetzung wirkungsvoller Strategien zur Vermeidung aggressiv ausgetragener Konflikte immer wieder, sowohl im privaten als auch im inner- und zwischenstaatlichen Bereich, auf archaische Formen der Konfliktaustragung (bis hin zur Tötung von Artgenossen) zurückgreift; und dies trotz Vorhandensein die Folgen einer Handlung reflektierender Fähigkeiten.
So ist bezeichnender Weise oft auch der Mensch für Störungen und Dysfunktionen des Verhaltens von Papageienvögeln - dies gilt sowohl für freilebende Populationen als auch für in Gefangenschaft gehaltene Vögel - verantwortlich; sei es aus materiellen (ökonomischen) Motiven, oder aber als Resultat des Miss- bzw. Nichtverstehens der Mitkreatur Papageienvogel. Letzeres gilt insbesondere für die Haltung von Papageienvögeln in Menschenobhut. Erwähnenswert scheint uns in diesen Zusammenhängen aber auch, dass den Auswirkungen anthropogener Einflüsse auf die Populationsstärken und zuweilen den Fortbestand (Arterhalt) freilebender Papageien seitens der Artenschutzorganisationen berechtigter Weise ein hohes Maß an Bedeutung beigemessen wird, gleichzeitig aber der mittelbaren Ein- und Auswirkung durch menschliche Einflüsse (Verknappung und/oder Zerstörung von Lebensräumen, Fang, Bejagung, etc.) verursachter Stressoren auf das Verhalten - auch hinsichtlich der innerartlichen Aggressionsbalance - nicht genügend forschende Beachtung geschenkt wird. Allein schon die Beengung räumlicher Strukturen, oder die existenzielle Verknappung von Futterressourcen kann aggressionsregulierende Verhaltensweisen innerhalb einer Sozietät nachhaltig stören oder gar zum Erliegen bringen.
Die Vorteile einer intakten Gruppenordnung und interner Aggressionsvermeidungs-Strategien sind nicht beliebig strapazierbar. Bei bewegungs- und fluchtorientierten Tieren - wie es Papageienvögel sind - ist die Fähigkeit zur sinnvollen Beantwortung von Außenreizen immer an die Möglichkeit des Ausweichens, der Ortsveränderung (Lokomotion) gebunden. Mit den Worten von Konrad Lorenz: "Man kann sagen, dass die primäre und wichtigste Leistung der Lokomotion darin liegt, dass das Tier sich einer Gefahrensituation entziehen kann." (Lorenz, K. (1977): Die Rückseite des Spiegels, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, S. 67)
Es bleibt die Feststellung, dass Rangordnungen in aller Regel in ritualisierter (nicht ernsthaft beschädigender) Weise "ausgekämpft" werden, wobei es jedoch gelegentlich auch zu etwas heftigeren Formen der Auseinandersetzung (z.B. sog. "Schnabelgefechten") und speziell bei in Gefangenschaft gehaltenen Gruppen dazu kommen kann, dass sich zwei Vögel regelrecht ineinander verbeißen und kaum zu sondieren ist, wo sich welches Exemplar befindet. Solcherart eskalierende Zwischenfälle sind insbesondere dann nicht auszuschließen, wenn ein neu hinzukommender Vogel in eine bereits bestehende Gruppe mit etablierter Rangordnung integriert werden soll und es sich bei dem Neuling zusätzlich um ein dominantes Tier handelt. In solchen Fällen spielt ein zweiter Faktor, die territoriale Aggression (Revierverteidigung) natürlich ebenfalls eine Rolle. Im Freiland besteht die jederzeitige Möglichkeit des räumlichen Ausweichens, die unter Privathaltungsbedingungen in den seltensten Fällen in ausreichendem Maß gegeben ist.
Resümierend bleibt festzuhalten: Der Nutzen von Rangordnungssystemen besteht darin, innerartliche Aggression - ausgenommen die Zeitspanne der Balz-, Brut- und Aufzuchtphasen - zu begrenzen. Dies bedeutet eine Ersparnis von Energie und Vermeidung der Schwächung und/oder Schädigung von Gruppenmitgliedern sowie eine Stärkung des Gruppenzusammenhaltes.
Die fast zwangsläufig auftretenden körperlichen Schädigungen bei eskalierenden Kämpfen sind nur die unmittelbar sichtbaren Folgen. Gleichrangige Beachtung verdient die Tatsache, dass eskalierende Kämpfe bei Säugetieren und Vögeln ein schnelles Ansteigen der Glucocorticoide und eine Absenkung der Gonadotropine und des Testosterons bewirken; dies insbesondere bei unterlegenen Tieren. Bei einer stabilen Gruppensituation, die keinen dauernden Störungen (wie z.B. Einengung der Aktions- und Rückzugsräume, häufige Wechsel in der Zusammensetzung der Gruppenstruktur - insbesondere bei Haltung in Menschenobhut -) unterworfen wird, stabilisiert sich die Situation rasch und die Hormonwerte normalisieren sich. Versagen jedoch die eskalationsregulierenden Rangordnungssystem nachhaltig, so entsteht eine sozial extrem instabile Situation. Die Corticoidwerte einzelner Tiere, speziell der ständig unterlegenen, bleiben chronisch erhöht. Dies hat eine Herabsetzung der Widerstandskraft bis hin zum Zusammenbruch des Immunsystems zur Folge. Konstant erhöhte Testosteronspiegel können u.a. zu einer Unterbindung der Fortpflanzungsfähigkeit (kastrationsähnliche Erscheinungen) führen, was letztlich eine Reduktion der Vermehrungsrate und eine Schwächung der Population bewirkt (Svare, B.B. (1983): Hormones and aggressive behavior, Plenum Press, New York ; Thiessen, D.D. (1976): The evolution and chemistry of aggression, Charles C. Thomas Publ., Springfield, III. ; Wright, P., Caryl, P.G., Vowles, D.M. (1975): Neural and endocrine aspects of behavior in birds, Elsevier, Amsterdam).
Allein schon daraus wird ersichtlich, welche Bedeutung der Begrenzung innerartlicher Aggression beizumessen ist. Eibl-Eibesfeldt stuft mit großer Berechtigung das Territorial- und Rangverhalten als wichtigstes Mittel zur Schonung von Ressourcen durch Kontrolle innerartlicher Konflikte ein (Eibl-Eibesfeldt, I. (1974): Grundriss der vergleichenden Verhaltensforschung, Ethologie, Piper & Co. Verlag, München).
Rangordnungen stehen wie die meisten Systeme intraspezifischen Verhaltens in enger Beziehung zu angeborenen Aktions- und Reaktionsnormen. Die Komponenten der endogen-automatischen Abläufe und der die Aktionsabläufe hemmenden Instanzen müssen sich in einem stabilen Gleichgewicht befinden, um zu funktionieren. Aktionen und Reaktionen sind stets nur innerhalb der genetisch verfügbaren Variationsbreite möglich.
Betrachten wir uns den "Kampfablauf" zweier spielerisch "kämpfender" Amazonen, so werden wir sehen, dass dann, wenn das "Kampfgeschehen" sich zu verselbständigen (bzw. zu eskalieren) droht, von einem der beteiligten Vögel dadurch auf Beendigung des Geschehens "hingewirkt" wird, dass er sich auf den Rücken legt und durch Präsentation seiner Verletzbarkeit "Aufgabe" (Unterlegenheit) signalisiert. Dieses Verhalten löst beim "Angreifer" einen Hemmmechanismus aus und er lässt vom "Gegner" ab. Keine andere Verhaltensweise (ausgenommen die Flucht) könnte diese Hemmung wirkungsvoll in Gang setzen.
Das Aktions-Reaktions-Muster folgt dem angeborenen Auslösemechanismus (AAM) auf Grundlage der Beantwortung sog. "Schlüsselreize". Stellen wir uns das "Auf-den-Rücken-Werfen" als Schloss vor, so ist der passende Schlüssel dazu die Beendigung der "Kampfhandlung" (das Abebben der Aggression).
Interessant für die ursächliche Beurteilung inadäquater Fehlreaktionen (wie z.B. das Versagen der Aggressionshemmung) sind die Beobachtungen von Lissmann, Heinroth und Lorenz, dass bei längerem Nichtgebrauch solcher Aktionsabläufe die Schwelle der sie auslösenden Reize absinkt. Hierzu zusammenfassend Konrad Lorenz: "Dadurch wird die betreffende Verhaltensweise immer leichter auslösbar, beginnt auf inadäquate Reize, auf "Ersatzobjekte" anzusprechen, und im Extremfall geht sie schließlich ohne jeden nachweisbaren Reiz los (...)" (Lorenz, K. (1977): Die Rückseite des Spiegels, Deutscher Taschebuch Verlag, München, S. 83)
Es liegt auf der Hand, dass derart auf (Reiz)Schwellenerniedrigung basierende Fehlreaktionen dadurch begünstigt (bzw. ausgelöst) werden, dass einer hohen Anzahl von Papageienvögeln in Menschenobhut jede Möglichkeit des permanenten Auslebens angeborener Verhaltensabläufe vorenthalten wird. Drastisch kommt das Vorenthalten solcher Abläufe bei Einzelhaltung auf soziale Organisation "programmierter" Tiere zum Tragen.
Einzeln gehaltene Papageienvögel, denen interspezifische Artkontakte vorenthalten werden, sind zwangsläufig darauf angewiesen, ihr arteigenes Verhalten am und mit dem Ersatzpartner Mensch auszuleben. Dass dies nur in sehr unzulänglicher Weise möglich ist, bedarf eigentlich keiner weiteren Erörterung. Abgesehen von der Physis (die beim Mensch recht wenig Ähnlichkeit mit der Morphologie von Papageienvögeln hat) ist der Mensch (Halter) auch hinsichtlich des Eingehens auf und der Verfügbarmachung von "papageiischen" Aktions- und Reaktionsnormen nur marginal zu artangepassten Interaktionen befähigt. Insbesondere die "Beantwortung" agonistischer Verhaltenselemente stellt (dies gilt in verstärktem Maß bei HZ-Vögeln) vielfach ein schier unlösbares Problem für die Halter dar und führt nicht selten dazu, dass vormals in das Wohnumfeld "integrierte" Papageienvögel ihr weiteres Dasein ausschließlich als Käfigvogel fristen müssen. |